Roald Dahl - Matilda Страница 7
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Als Fräulein Honig das Arbeitszimmer betrat, stand Fräulein Knüppelkuh mit ungeduldiger und finsterer Miene neben ihrem gewaltigen Schreibtisch. «Ja, Fräulein Honig», sagte sie, «was wollen Sie? Sie sehen ja heute früh vollkommen aufgelöst aus. Was ist los mit Ihnen? Haben diese kleinen Stinker Sie mit Papierkügelchen beschossen?»
«Nein, Frau Rektorin, keineswegs.»
«Was ist es denn dann? Heraus damit. Ich bin eine beschäftigte Frau.» Während sie sprach, griff sie nach einem Krug, der immer auf ihrem Schreibtisch stand, und goß sich ein Glas Wasser ein.
«Ich habe in meiner Klasse ein kleines Mädchen namens Matilda Wurmwald...» begann Fräulein Honig.
«Das ist die Tochter von dem Mann, dem Wurmwald-Motoren in der Stadt gehört», bellte Fräulein Knüppelkuh. Sie sprach fast niemals mit normaler Stimme. Sie bellte entweder, oder sie brüllte. «Guter Mann, der Wurmwald», fuhr sie fort, «bin erst gestern bei ihm gewesen. Hat mir einen Wagen verkauft. Fast neu. Nur zehntausend Kilometer drauf. Hat einer alten Dame gehört, die den Wagen höchstens einmal im Jahr aus der Garage holte. Da hab ich ein Mordsgeschäft gemacht. Ja, Wurmwald gefällt mir. Eine wahre Säule unserer Gesellschaft. Hat mir gesagt, seine Tochter sei allerdings ein schlimmes Stück. Ich sollte ein wachsames Auge auf sie haben. Er hat gesagt, wenn in der Schule jemals was passierte, so steckte bestimmt seine Tochter dahinter. Ich hab die kleine Ratte noch nicht zu sehen gekriegt, aber ich werd sie schon erkennen, wenn es soweit ist. Ihr Vater sagt, sie sei ein richtiges Früchtchen.»
«O nein, Frau Rektorin, das kann nicht stimmen!» rief Fräulein Honig.
«O ja, Fräulein Honig, und ob das stimmt! Wenn ich nämlich richtig darüber nachdenke, so geh ich jede Wette ein, daß sie es war, die mir heute früh eine Stinkbombe unter den Tisch gelegt hat. Das Zimmer hat wie eine Kloake gerochen! Natürlich ist sie das gewesen! Das werd ich ihr heimzahlen, passen Sie nur auf! Wie sieht sie aus? Wahrscheinlich wie ein widerlicher kleiner Wurm. Ich habe nämlich in meiner langen Karriere als Lehrerin herausgefunden, Fräulein Honig, daß ein schlimmes Mädchen weitaus gefährlicher ist als ein schlimmer Junge. Und dann kommt noch hinzu, sie sind viel schwerer fertigzumachen. Ein schlimmes Mädchen zu erledigen, das ist so, als ob man versuchte, eine Schmeißfliege zu zerquetschen. Man haut drauf, und weg ist das verdammte Ding. Abscheuliche schmutzige Dinger diese Mädchen. Ich bin nur froh, daß ich nie eins war.»
«Oh, aber einmal müssen Sie doch auch ein kleines Mädchen gewesen sein, Frau Rektorin. Ganz bestimmt.»
«Wenigstens nicht lange», bellte Fräulein Knüppelkuh und grinste, «bin im Handumdrehen eine Frau geworden.»
Sie ist völlig verrückt, sagte sich Fräulein Honig, knatschverrückt. Sie blieb entschlossen vor der Schulleiterin stehen. Ein einziges Mal wollte sie sich nicht abweisen und unterdrücken lassen. «Ich muß Ihnen erklären, Frau Rektorin», sagte sie, «daß Sie ganz und gar im Irrtum sind, wenn Sie meinen, Matilda hätte eine Stinkbombe unter Ihren Schreibtisch gelegt.»
«Ich irre mich nie, Fräulein Honig.»
«Aber Frau Rektorin, es ist der erste Schultag des Kindes, und es ist direkt in den Klassenraum...»
«Um Himmels willen, keine Widerworte, Weib! Diese kleine miese Matilde, oder wie sie heißt, hat nur mein Arbeitszimmer stinkbombardiert! Daran gibt’s nichts zu drehen und zu deuteln! Besten Dank, daß Sie mich darauf hingewiesen haben.»
«Aber ich habe Sie nicht darauf hingewiesen, Frau Rektorin.»
«Aber natürlich haben Sie das getan! Also, was haben Sie noch auf dem Herzen, Fräulein Honig? Warum verplempern Sie meine Zeit?»
«Ich wollte mich mit Ihnen über Matilda unterhalten, Frau Rektorin. Ich muß Ihnen etwas ganz Außergewöhnliches über dieses Kind berichten. Darf ich Ihnen bitte erzählen, was gerade eben in der Klasse geschehen ist?»
«Hat wahrscheinlich Ihren Rock in Brand gesteckt und Ihre Unterhosen angesengelt!» schnaubte Fräulein Knüppelkuh.
«Nein, aber nein!» rief Fräulein Honig aus. «Matilda ist ein Genie.»
Bei der Erwähnung dieses Wortes lief Fräulein Knüppelkuhs Gesicht purpurrot an, und ihr ganzer Leib schien sich aufzublähen und zu schwellen wie bei einem Ochsenfrosch. «Ein Genie!» brüllte sie. «Was für einen Quatsch versuchen Sie mir da einzureden, meine Dame? Sie müssen den Verstand verloren haben! Ich habe das Wort ihres Vaters, daß dieses Kind ein Gangster ist!»
«Ihr Vater irrt sich, Frau Rektorin.»
«Seien Sie doch nicht albern, Fräulein Honig! Sie haben dieses kleine Biest eine halbe Stunde vor der Nase gehabt, ihr Vater kennt sie ihr ganzes Leben!»
Fräulein Honig war jedoch so fest entschlossen, diesmal das zu sagen, was sie auf dem Herzen hatte, daß sie einfach anfing, von Matildas erstaunlichen Rechenkunststücken zu erzählen.
«Dann hat sie also ein paar Einmaleinse auswendig gepaukt. Na und?» bellte Fräulein Knüppelkuh. «Das, meine Liebe, macht doch noch kein Genie aus ihr! Höchstens einen Papagei!»
«Aber Frau Rektorin, sie kann lesen.»
«Das kann ich auch», fauchte Fräulein Knüppelkuh.
«Ich bin der Ansicht», sagte Fräulein Honig, «daß Matilda aus meiner Klasse genommen und sofort in die letzte Klasse zu den Elfjährigen versetzt werden sollte.»
«Ha!» schnaubte Fräulein Knüppelkuh. «Sie wollen sie also loswerden, was? Sie werden also nicht mit ihr fertig? Sie wollen sie also der unglückseligen Plimbim in der letzten Klasse aufbürden, wo sie noch mehr Unheil stiften wird?»
«Nein, nein!» rief Fräulein Honig. «Das sind ganz und gar nicht meine Beweggründe!»
«Und ob sie das sind!» brüllte Fräulein Knüppelkuh. «Ich habe Ihre kleine jämmerliche List von Anfang an durchschaut, meine Liebe. Und meine Antwort lautet: nein! Matilda bleibt, wo sie ist, und Sie sind dafür verantwortlich, daß sie sich benimmt.»
«Aber Frau Rektorin, bitte...»
«Kein Wort mehr!» brüllte Fräulein Knüppelkuh. «Außerdem herrscht hier in meiner Schule die Regel, daß alle Kinder in ihrer eigenen Altersgruppe bleiben, ohne Rücksicht auf Begabung. Grundgütiger, ich denke gar nicht daran, eine kleine fünfjährige Gaunerin zu den ältesten Jungen und Mädchen zu versetzen. Wo gibt’s denn so was?»
Fräulein Honig stand vor dieser mächtigen, stiernackigen Riesin hilflos da. Es gab noch viel, was sie gern gesagt hätte, aber sie wußte, daß es zwecklos war. So sagte sie leise: «Nun gut, es ist ihre Entscheidung, Frau Rektorin.»
«Und ob es das ist», bellte Fräulein Knüppelkuh, «und vergessen Sie nicht, meine Beste, daß wir es mit einer kleinen Schlange zu tun haben, die mir eine Stinkbombe unter meinen Tisch...»
«Das hat sie nicht getan, Frau Rektorin!»
«Aber natürlich!» dröhnte Fräulein Knüppelkuh. «Und ich will Ihnen mal was verraten. Ich wünschte zum Himmel, daß ich noch die Birkenrute und den Gürtel benutzen dürfte wie in der guten alten Zeit. Ich würde Matilda so den Hintern versohlen, daß sie einen Monat lang nicht mehr sitzen könnte!»
Fräulein Honig wandte sich ab und ging aus dem Arbeitszimmer, ziemlich niedergeschlagen, aber keineswegs besiegt. Ich werde etwas für dieses Kind unternehmen, schwor sie sich insgeheim. Ich weiß nicht, was das sein kann, aber ich werde einen Weg finden, wie ich ihr doch noch helfen kann.
Die ElternAls Fräulein Honig aus dem Zimmer der Schulleiterin trat, befanden sich die meisten Kinder draußen auf dem Schulhof. Ihr erster Schritt bestand darin, daß sie die Runde machte bei den verschiedenen Lehrern, die in der obersten Klasse unterrichteten, und sich von ihnen eine Reihe von Lehrbüchern auslieh, für Algebra, Geometrie, Französisch, Literatur und so weiter. Dann suchte sie Matilda und bat sie ins Klassenzimmer. «Es hat keinen Sinn», begann sie, «daß du hier herumsitzt und Däumchen drehst, während ich den anderen das Einmalzwei beibringe und wie man Katze und Ratte und Maus buchstabiert. Ich werde dir also in jeder Stunde eins von diesen Lehrbüchern geben, mit denen du dich beschäftigen kannst. Am Ende der Stunde kannst du zu mir kommen, und falls du irgendwelche Fragen hast, werde ich versuchen, dir zu helfen. Was meinst du dazu?»
«Vielen Dank, Fräulein Honig», sagte Matilda, «das finde ich gut.»
«Ich bin fest davon überzeugt», fuhr Fräulein Honig fort, «daß wir es schaffen werden, dich später ein paar Klassen überspringen zu lassen, aber im Augenblick wünscht die Schulleiterin, daß du bleibst, wo du bist.»
«Gut, Fräulein Honig», sagte Matilda, «und vielen Dank, daß Sie mir diese Bücher besorgt haben.»
Was ist sie doch für ein nettes Kind, dachte Fräulein Honig. Es ist mir schnuppe, was ihr Vater über sie gesagt hat, mir kommt sie sehr ruhig und sanft vor und kein bißchen aufgeblasen trotz all ihrer Gescheitheit. Im Grunde genommen scheint sie sich dessen gar nicht bewußt zu sein.
Als sich die Kinder wieder in der Klasse versammelten, ging Matilda zu ihrem Pult und begann, ein Geometriebuch zu studieren, das ihr Fräulein Honig gegeben hatte. Die Lehrerin behielt sie die ganze Zeit mit im Auge und verfolgte, wie sich das Kind ziemlich rasch völlig in das Buch vertiefte. Sie schaute während der ganzen Stunde kein einziges Mal auf.
Fräulein Honig kam unterdessen zu einem zweiten Entschluß. Sie nahm sich vor, sobald wie möglich selber zu Matildas Eltern zu gehen und sich mit ihnen unter sechs Augen zu unterhalten. Sie wollte sich einfach nicht damit abfinden, alles so zu lassen, wie es war. Die ganze Angelegenheit war einfach lächerlich. Sie mochte es nicht glauben, daß die Eltern die bemerkenswerten Eigenschaften ihrer Tochter noch gar nicht wahrgenommen hatten. Schließlich war Herr Wurmwald ein erfolgreicher Autohändler, deshalb nahm sie an, daß er selber ganz gescheit sein mußte. Auf jeden Fall neigten Eltern niemals dazu, die Fähigkeiten ihrer eigenen Kinder zu unterschätzen. Ganz im Gegenteil. Manchmal war es einem Lehrer fast unmöglich, den stolzen Vater oder die Mutter davon zu überzeugen, daß ihr geliebter Sprößling ein völliger Versager war. Fräulein Honig war sicher, daß es ihr keine Schwierigkeiten machen würde, Herrn und Frau Wurmwald davon zu überzeugen, daß Matilda wirklich etwas ganz Besonderes war. Das Problem lag vermutlich eher darin, ihre Begeisterung zu bremsen.
Und dann begannen Fräulein Honigs Hoffnungen noch höher zu steigen. Sie überlegte, ob sie sich nicht von den Eltern die Erlaubnis erbitten sollte, Matilda nach der Schule Privatunterricht zu geben. Die Aussicht, ein so helles Kind wie dieses zu fördern, regte ihren Berufsinstinkt als Lehrerin ganz ungeheuer an. Und plötzlich beschloß sie, schon an diesem Abend Herrn und Frau Wurmwald zu besuchen. Sie wollte nicht allzu früh zu ihnen gehen, erst zwischen neun und zehn Uhr, wenn Matilda bestimmt schon im Bett war.
Und genauso machte sie es auch. Sie besorgte sich die Anschrift aus den Schulakten, und kurz nach neun machte sie sich auf den Weg zum Haus der Wurmwalds. Sie entdeckte es in einer hübschen Straße, in der die kleinen Eigenheime durch ein Stückchen Garten voneinander getrennt standen. Es war ein modernes Backsteinhaus, das nicht billig gewesen sein konnte, und der Name über der Gartentür lautete LAUSCHIGER WINKEL. Lärmige Hinkel hätte besser gepaßt, dachte Fräulein Honig. Sie hatte eine Schwäche für solche Wortspiele. Sie ging den Gartenweg entlang und läutete an der Haustür, und während sie dastand und wartete, konnte sie drinnen den Fernsehapparat plärren hören.
Die Tür wurde von einem kleinen Mann mit einem Rattengesicht und einem dünnen Rattenschnurrbärtchen geöffnet, der ein Sportsakko mit orangefarbenen und roten Streifen trug. «Ja?» fragte er und blinzelte zu Fräulein Honig hinaus. «Wenn Sie Lotterielose verkaufen, ich will keine.»
«Das tue ich nicht», antwortete Fräulein Honig, «und bitte verzeihen Sie mir, daß ich so hereinplatze. Ich bin Matildas Lehrerin, und es ist wichtig, daß ich mich mit Ihnen und Ihrer Frau unterhalte.»
«Hat schon Ärger gemacht, was?» fragte Herr Wurmwald und blockierte den Eingang. «Also, dafür sind jetzt Sie verantwortlich. Sie müssen mit ihr fertig werden.»
«Sie hat nicht im geringsten Ärger gemacht», sagte Fräulein Honig. «Ich bin mit guten Nachrichten über sie gekommen. Ganz erstaunlichen Nachrichten, Herr Wurmwald. Meinen Sie, daß ich ein paar Minuten hereinkommen und mit Ihnen über Matilda sprechen könnte?»
«Wir sind gerade dabei, uns eine unserer Lieblingssendungen anzuschauen», sagte Herr Wurmwald, «das paßt jetzt gar nicht. Warum kommen Sie nicht ein andermal wieder?»
Fräulein Honig begann die Geduld zu verlieren. «Herr Wurmwald», sagte sie, «wenn Sie finden, daß irgendein schwachsinniges Fernsehprogramm wichtiger ist als die Zukunft Ihrer Tochter, dann hätten Sie nicht Vater werden sollen! Warum stellen Sie das verflixte Ding nicht ab und hören mir zu?»
Das brachte Herrn Wurmwald vollkommen durcheinander. Er war nicht daran gewöhnt, daß man so mit ihm sprach. Er beäugte mißtrauisch die schlanke, zerbrechliche Frau, die so entschlossen vor seiner Schwelle stand. «Na, also gut», fuhr er sie an, «rein mit Ihnen, damit wir’s schnell hinter uns bringen.»
Fräulein Honig trat energisch ein.
«Frau Wurmwald wird Ihnen dafür nicht sehr dankbar sein», sagte er, während er sie ins Wohnzimmer führte, wo eine füllige wasserstoffblonde Frau hingerissen auf den Bildschirm starrte.
«Wer ist das?» fragte die Frau, ohne sich umzudrehen.
«‘ne Lehrerin», antwortete Herr Wurmwald. «Sie sagt, sie muß mit uns über Matilda reden.» Er ging zum Fernsehgerät und stellte den Ton ab, ließ aber das Bild weiterlaufen.
«Laß das doch, Harry!» rief Frau Wurmwald aus. «Hans-Joachim ist gerade dabei, Angelika einen Heiratsantrag zu machen!»
«Kannst ja zugucken, während wir reden», sagte Herr Wurmwald. «Dies ist Matildas Lehrerin. Sie sagt, sie hätte irgendwelche Neuigkeiten für uns.»
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